Jüdisches Leben im Schwaben der Frühneuzeit

Zeiten des Lichts und Zeiten der Dunkelheit – Jüdisches Leben im Schwaben der Frühneuzeit 

Nach den Vertreibungen der jüdischen Bevölkerung aus den Reichsstädten, u.a. aus Augsburg, und ganzen Territorien wie z. B. Bayern, entstanden im Spätmittelalter zahlreiche Landgemeinden. In Schwaben konzentrierten sich die Siedlungen vor allem im Raum Dillingen, aber auch rund um Augsburg gab es jüdische Gemeinden: In Kriegshaber und Pfersee, die heute zu Augsburg gehören, in Steppach und in Schlipsheim bei Neusäß ließen sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert jüdische Familien nieder.


Landjuden in der Stadt: Nur mit Wache und Genehmigung 


Nach Augsburg durften Jüdinnen und Juden nur in Begleitung einer von ihnen zu bezahlenden Stadtwache. Zuvor mussten sie einen sogenannten „Judengeleitzettel“ einreichen, auf dem vermerkt war, welche Institutionen und Personen sie in der Stadt aufsuchen wollten. Insgesamt 750 dieser Zettel aus den Jahren 1577 bis 1621 sind im Augsburger Stadtarchiv erhalten geblieben. Die wichtige, von der Forschung lange übersehene Quelle wird zurzeit von der amerikanischen Sozialhistorikerin B. Ann Tlusty und dem Augsburger Sprachwissenschaftler Dr. Helmut Graser für ein Editionsprojekt ausgewertet.


Erste Ergebnisse des Forschungsprojekts bringen spannende Erkenntnisse über das Alltagsleben von Jüdinnen und Juden in der Frühneuzeit. Obwohl sie sich in den Städten nicht niederlassen durften, gab es einen regen Austausch. Die meisten der Stadtbesucher kamen aus nahegelegenen Dörfern und Kleinstädten im heutigen Bayerisch-Schwaben. Es kamen aber auch Besucherinnen und Besucher aus Franken, dem Rhein-Main-Gebiet hinaus bis nach Amsterdam, Krakau, Prag und Wien. 


Im regen Austausch – trotz Niederlassungsverbot 


Zu den Institutionen, die von den jüdischen Besuchern in der Stadt aufgesucht wurden, gehören das Domkapitel, die Bischofspfalz, diverse Klöster, die Stadtkanzlei, das Spital, die Stadtmetzg, das Weberhaus, Apotheken, der Ross- und der Weinmarkt und viele weitere Adressen. Hunderte von namentlich genannten Personen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten werden genannt, von Adeligen, Patriziern, juristischen und medizinischen Doktoren, städtischen Funktionsträgern usw. bis hinunter zu einfachen Handwerkern, Gastwirten, Flößern und Fischern.





Obwohl der nähere Zweck der Besuche auf den Zetteln so gut wie nie verzeichnet ist, lassen sich aus der Verteilung und der Anzahl der Besuche bei bestimmten Personengruppen Rückschlüsse ziehen. An erster Stelle dürften Pfandleihgeschäfte gestanden haben. Dafür sprechen besonders die häufigen Besuche bei bestimmten Kreditvermittlern. Unter den Handwerkern werden insbesondere Goldschmiede aufgesucht. Dabei dürfte es u. a. um die Wertermittlung und finanzielle Verwertung von Pfandgegenständen gegangen sein. Jüdinnen, die etwa 10% der jüdischen Besucher ausmachen, suchten öfter Apotheken, Hebammen und Ärzte auf, wohl weniger um diese zu konsultieren als sich Arzneimittel zum Weitervertrieb außerhalb der Stadt zu besorgen. Auf den jüdischen Hausierhandel auf dem Land weisen auch die Besuche bei Herstellern von Luxus- und Galanteriewaren hin, z. B. Uhr, Puppen- und Metallflittermachern.


Ein sprachhistorisches Dokument: Schreibkenntnisse der jüdischen Landbewohner


Unter sprachhistorischem Aspekt sind die Judengeleitzettel eine Quelle ersten Ranges. Nicht nur bieten sie eine Fülle jüdischer Männer- und Frauennamen mit vielen, teilweise der Forschung noch nicht bekannten Varianten und Schreibweisen. Wir können aus einer Analyse der Handschriften auch Rückschlüsse darauf ziehen, wer seine Zettel selbst verfasste und wer professionelle Schreiber beauftragte, weil er oder sie nicht (ausreichend) des Deutschen oder der lateinischen Schrift mächtig war. Charakteristische Sprachmerkmale, die auf die jiddische Umgangssprache hinweisen, lassen erkennen, dass zwar nicht alle, aber doch ein großer Teil der vorliegenden Judengeleitzettel mit Sicherheit von den Juden selbst geschrieben wurden und nicht von christlichen Auftragsschreibern.


Aus den Augsburger „Judengeleitzetteln“ können wir also schließen, dass die ältere These, in der Frühen Neuzeit hätten Juden nur Hebräisch bzw. Jiddisch mit hebräischen Lettern zu schreiben verstanden, widerlegt ist. Trotz der räumlichen Trennung zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung und der zahlreichen Beschränkungen, die es für Jüdinnen und Juden im Berufsleben und im Alltag gab, lebten sie im ständigen Austausch mit der christlichen Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt im Durchschnitt deutlich schlechter alphabetisiert gewesen sein dürfte. 



Dr. Helmut Graser


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